James Kingston ist süchtig nach Angst. Oder besser danach, diese auszuschalten. Er findet nichts Falsches daran, an einem Arm von einem Kran in 530 Metern Höhe zu hängen. Erst als er auf der Moscow Bridge in der Ukraine – natürlich ungesichert – einen Rückwärtssalto versucht, rutscht auch dem 23-jährigen Engländer das Herz in die Hose. Und mit ihm allen Zuschauern, die gestern Abend im CinemaxX-Dammtor saßen, um sich die Beiträge der European Outdoor Film Tour 14/15 zu Gemüte führen.
Mein Fazit der Veranstaltung: Manche Beiträge waren interessant und spannend, vor allem die Geschichte der Extremsportler dahinter. Andere blieben an der Oberfläche und erinnerten ein wenig an einen Werbespot. Vielleicht sollte man sich auch schämen, dass man als Zuschauer gleich an Coca Cola denkt, nur weil man Schnee in Kombination mit etwas stark Beleuchtetem sieht. Aber so ist es nun mal, wenn zwei Ski-Profis in lichterbesetzten Anzügen eine Tiefschnee-Piste heruntersausen und laute Musik dazu ihren Rausch symbolisieren soll.
James Kingston, der eingangs erwähnte Krankletterer ist im Prinzip ein kranker junger Mann. Ein Schulabbrecher, der sich einst in Videospielen verlor und nach der Sportart Parkour jetzt das Urban Climbing für sich entdeckt hat. Über seine Grenzen zu gehen, gibt seinem Leben Sinn und raubt seiner Mutter verständlicherweise den letzten Nerv. Das wir Otto Normalverbraucher ihm dabei zusehen dürfen, wie er ständig sein Leben aufs Spiel setzt, ist gleichermaßen irrsinnig wie faszinierend. Für mich war es schon eine Herausforderung, nicht die Augen zu schließen, als Kingston wie Spiderman von Sprosse zu Sprosse eines Baugerüsts springt.
Genau wie als Alex Honnold freihändig die senkrechten Hänge des El Sendero Luminoso bezwingt und Eiskletterer Will Gadd bei minus 30 Grad an einem tosenden Wasserfall vorbeikrakselt. Und zu der Höhlenkletter-Truppe um Kieran Mckay in Neuseeland hätte ich am liebsten laut gesagt: „Leute, ihr müsst das nicht tun!“. Die Weisheit eines Gruppenmitglieds: Wenn die Hüfte durch den Schlitz zwischen zwei Felswänden passt, dann passt irgendwie auch der Rest des Körpers durch. Aber was, wenn diese Theorie mal nicht aufgeht und man in dem dunklen Loch stecken bleibt? Wenn ich sehe, was diese Leute wagen, dann muss ich über mich selbst schmunzeln. Überlegt mal, wovor ihr im Alltag alles so Angst habt und was dagegen echtes Risiko bedeutet!
Außerdem habe ich auf dem European Film Fest extrem große Lust bekommen, wieder zu reisen. Besonders fernweh-schürend und berührend fand ich die Geschichte von vier befreundeten Kajakerinnen: Die Amerikanerinnen wollten mit ihren Booten den freifließenden Strom Armur entlang fahren – von der Mongolei bis zum russischen Pazifik. Eine der Frauen entschied sich, die Reise abzubrechen, weil ihr Lebensgefährte kurz zuvor gestorben war. Und letztendlich sind die Bedingungen so hart, dass auch die restliche Truppe das Vorhaben nicht zu Ende bringt.
Verdammtes Glück im Unglück: Denn nur wenig später wird die komplette Region des Armurdeltas durch starke Regenfälle überschwemmt. So nehmen die Freundinnen als Erinnerungen neben den unwirtlichen Industrie-Gewässern Russlands vor allem die saftig grünen Landschaften der Mongolei mit. Letztere standen der CinemaxX-Leinwand gestern ganz fantastisch und haben sicherlich den ein oder anderen Weltenbummler auf eine Idee gebracht.
10 statt 15 Euro Eintritt hätten es meiner Meinung nach auch getan, aber ich bin wirklich froh, dass ich gestern mal in die Welt echter Abenteurer eintauchen durfte. Ich denke sogar schon darüber nach, mir vielleicht auch die OCEAN Film Tour anzusehen. Das Event für Wassersportfans tourt ab dem 21.03. von Hamburg aus durch Deutschland. Am 02. Februar habt ihr auch noch mal die Chance, hier in unserer Stadt die letzte Vorstellung der European Outdoor Film Tour 14/15 (auch E.O.F.T. genannt) zu sehen. Die nächste Runde Kino-Action startet dann wieder im Oktober / November dieses Jahres.