Der Dalai Lama ist seit jeher eine Persönlichkeit, die Menschen weltweit inspiriert. Aber war euch bewusst, dass das einstige religiöse Oberhaupt der Tibeter seit über 50 Jahren im Exil in Indien lebt? Wer in seiner einstigen Heimat, dem Tibet, auch nur den Namen des Dalai Lamas erwähnt, wandert heute schnurstracks ins Gefängnis. Viele prachtvolle Tempel aus seiner Zeit vegetieren irgendwo verlassen vor sich hin und die intakten Gebetshäuser, die renoviert wurden, sind oftmals nicht mehr als Show.
Sie werden in den Stadtgebieten sozusagen für Touristen „bespielt“. Die tibetischen Mönche, die man dort bei ihren Ritualen beobachten kann, werden von der chinesischen Regierung bezahlt. Nur vereinzelt gibt es noch „echte“ Mönche, die dort in ihren weinroten Kutten meditieren und diskutieren. Von Zeit zu Zeit zündet sich sogar einer von ihnen an, um ein Zeichen gegen die Unterdrückung zu setzen. Doch wenig bis gar nichts dringt davon an die internationale Presse, die im Tibet nicht berichten darf.
Einer der dennoch hinter die Fassade des von China besetzten Landes geblickt hat, ist York Hovest. Ein nicht unbekannter deutscher People-Fotograf. Schon lange fotografiert er Modestrecken und hat demnach viele schöne Frauen gesehen. Aber zuletzt fehlt ihm der tiefere Sinn in seinem Schaffen. Also beschließt der Münchener einen Brief an den Dalai Lama zu schreiben bzw. an die deutsche Anlaufstelle für alle Fragen rund um die tibetische Ikone. Seine Idee: Er wollte den Dalai Lama auf seiner Deutschlandtour begleiten und ehrenamtlich öffentlich nutzbare Porträts von seiner Heiligkeit machen.
Doch aus diesem Vorhaben wird mehr. Viel mehr. Als York Hovest dem Dalai Lama 2011 das erste Mal begegnet, ist er nervös, genau wie all die anderen Journalisten, Politiker und Wirtschaftsvertreter im Raum. Doch der Dalai Lama interessiert sich nicht für die herausgeputzten Herren und ihre ausgestreckten Hände. Als er den Raum betritt, steuert er geradewegs auf Hovests kleinen Sohn in dessen Kinderwagen zu. Das Eis ist gebrochen, der Fotograf fasziniert. Die warme, gelassene Aura des Tibeters bringt Hovest auf eine ambitionierte Idee:
Er beschließt 100 Tage nach Tibet zu reisen, um die alte Heimat des Dalai Lama zu porträtieren. Wie sieht es dort in den Herzen der Menschen aus? Glauben sie noch an den Dalai Lama? Auf diese Fragen verspricht Hovest Antworten zu finden. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Dalai Lama. Er klopft also an die Tür verschiedener Sponsoren, kauft Profi-Outdoor-Ausrüstung und schleicht sich durch eine List in das heilige Land. Normalerweise dürfen Touristen im Tibet nur maximal 30 Tage bleiben und auch nur in einer größeren geführten Gruppe. Hovest jedoch lässt für seine Einreise mehrere Pässe fälschen und täuscht an der Grenze einen Virus in der Gruppe der (nicht vorhandenen) „armen“ Mitreisenden vor.
Auf der anderen Seite angekommen, schließt er sich aber keiner neuen Reisegruppe an, sondern engagiert direkt ein Team aus einheimischen Sherpas. Das sind Männer, die sich gegen Geld als ortskundige Wegbegleiter anbieten. Die Sherpas helfen Hovest, seine Kamera- und Outdoorausrüstung durch Eis und Schnee zu schleppen, sie besteigen mit ihm verschneite Sechstausender-Berge bei bis zu minus 30 Grad und suchen wiederwillig nach längst vergessenen Gebetsstätten. Vor allem aber führen sie ihn zu einheimischen Nomaden und übersetzen, wo nötig, was diese dem Fotografen verraten.
Als Eisbrecher nutzt Hovest immer wieder ein Foto von sich selbst zusammen mit dem Dalai Lama, das bei vielen Einheimischen für große Rührung sorgt. Ein Nomade holt unter einem abgewetzten Shirt ein Amulett mit dem rissigen Bild des religiösen Oberhauptes hervor. Ein anderer zeigt ihm einen versteckten Tempel, in dem Menschen für den Dalai Lama einen Altar mit Erinnerungsstücken errichtet haben. Und später stößt Hovest auf eine Gruppe Jugendlicher, die ihn im Vertrauen mit in eine dunkle Straßenecke nehmen. Der eine trägt ein T-Shirt, das wie schlecht gebatikt aussieht. Doch als der Junge es auszieht und es auf eine bestimmte Art auf dem Fußboden zusammenlegt, entsteht plötzlich der detailliert gezeichnete Kopf seiner Heiligkeit.
Not macht also auch im Tibet erfinderisch. Denn solcherlei Ehr-Symbole sind in dem Land streng verboten. Was viele nicht wissen, weil kaum Informationen an die Außenwelt dringen: das Land ist hochmilitarisiert. Auf den Häuserdächern stehen Kameras und Schützen in Camouflage-Uniformen. Durch die Stadtkerne ziehen gewaltige Panzer auf vierspurigen Straßen. Immer wieder sieht man auch Ordnungshüter, wie sie alte Tibeter schikanieren. Dabei würden diese nie aufmüpfig werden, dazu sind sie viel zu friedlich. (Wenn sie jemandem die Zunge herausstrecken wie die Frau auf dem Bild oben ist das übrigens ein Zeichen des Respekts.)
Sogar auf dem Land ist die Polizeigewalt im Tibet allgegenwärtig. Wenn man sich denn von Polizisten-Statuen einschüchtern lässt, die aussehen als habe sie ein Pop-Art-Künstler gebastelt. York Hovest dokumentiert das alles auf gewitzte Weise mit einer Go-Pro-Kamera. Beispielsweise durch ein Loch in seinem Rucksack. Durch den an der Kamera befestigten Stock kann er das Objektiv im Rucksack-Inneren nach oben schieben, bis es durch das Loch guckt. So kann er unbemerkt Foto- und sogar Filmaufnahmen machen. Manches was Hovest so beobachtet, ergibt für ihn erst später einen Sinn.
So wundert sich der Münchener von Anfang an, warum er immer wieder alte Menschen sieht, die mitten in Mitte einer vierspurigen Straße laufen. Die Hauptstraße verläuft vor dem ehemaligen Palast des Dalai-Lama. Erst später wird dem Fotografen klar, dass hier früher ein Pilgerpfad verlief, dem tiefgläubige Tibeter noch heute folgen.
Hovests Geschichte mit jeder Menge Überraschungen wie dieser erschien in der Welt am Sonntag und in der National Geographic. Außerdem ist ein wunderbarer Bildband entstanden, der so eigentlich gar nicht geplant war. Hovest hat das Glück, dass er dem Dalai Lama dieses „Geschenk“ selbst überreichen darf. Aus 20 Minuten Buchübergabe wird ein Zwei-Stunden-Gespräch, in dem der Dalai Lama staunt, lacht und von Erinnerungen erzählt. „Good german work“, fasst der Tibeter zusammen und klopft Hovest auf die Schulter. Er belohnt den Münchener damit für 5.400 zurückgelegte Kilometer, 9.000 Fotos und 12 Stunden Videomaterial.
Teile davon durfte ich selbst bei Hovests deutschlandweiter Vortragsreihe im Oktober sehen. Hier findet ihr weitere spannende Events dieser Art von National Geographics: http://natgeopraesentiert.de/.
Fotos: York Hovest