Warum nicht einfach mal mit dem Fahrrad Kanada durchqueren, hat sich Lamar Timmins aus Montréal gedacht. Der 27-Jährige, den ich neulich in Hamburg kennenlernte, bricht letzten Herbst zu einem einmaligen Abenteuer auf. Mit einem Cargobike, einem Lastenrad, legt er in 38 Tagen knapp 4.000 Kilometer zurück. Wie die Tour überhaupt möglich war und was er dabei erlebt hat, verrät er mir im Interview. Das gab es noch fast nirgendwo zu lesen!
Quer durch ein Land fahren, das 30-mal so groß ist wie Deutschland. Wie bist du auf diese Wahnsinnsidee gekommen?
Ich bin sehr ehrgeizig, vor allem, wenn es darum geht, meine körperliche Ausdauer zu testen. Fahrradfahren und Reisen sind zwei Dinge, die ich liebe, deshalb stand eine Kanadatour schon immer auf meiner To-Do-Liste. Aber eigentlich war alles Zufall.
Die Firma trioBike hatte gerade das leichteste Cargobike der Welt gelaunched. Da bekam ich plötzlich die Idee, damit von Montréal nach Vancouver zu fahren. Also fragte ich trioBike nach einer Kooperation, genau wie den Lifestyleblog Modacity. Beide sagten ja, darauf war ich gar nicht vorbereitet. Das Fahrrad kam frisch von der Fabrik zu mir. Also musste ich meinen Plan in die Tat umsetzen.
Ist Kanada ein guter Ort zum Fahrradfahren?
Die Straßenverhältnisse sind gut, auch wenn es schwierige Strecken gab, auf denen meine Schulter schmerzte. Ich hatte auf der ganzen Tour keinen einzigen platten Reifen. In den Städten gab es zuverlässige Fahrradläden und ich habe gehört, dass im Sommer Tausende dieselbe Strecke fahren. Oktober/November als Reisezeit haben zwar viele wegen des Wetters kritisch gesehen, aber ich persönlich fand es so sehr angenehm: kühles Klima und keine Insekten.
Gibt es Radwege?
Nur die großen Städte wie Calgary, Ottawa, Vancouver und Winnipeg hatten richtige, gute Fahrradwege. Ansonsten wusste ich, dass ich immer auf dem Trans Canada Highway fahren würde. Das ist erlaubt. Am Schönsten war es in den Rockies. Alle haben gesagt, dass es dort hart werden würde. Aber im Gegenteil, es ging meist bergab.
Wie viele Kilometer bist du pro Tag gefahren?
Im Durchschnitt über 120 und an meinem besten Tag 240. Aber natürlich gab es auch schlechte Tage, an denen ich unter 100, einmal sogar nur 20 Kilometer geschafft habe. Ich wollte unbedingt an meinem Geburtstag, dem 7. November, in Vancouver sein und habe alle Etappen entsprechend geplant. Manchmal war mir auch einfach nicht nach Campen, sodass ich mich gezwungen habe, bis zum nächsten Ort zu fahren.
Da musst du viel abgenommen haben?
Ja, ich habe Fett und auch viel Muskelmasse verloren. Vor allem am Oberkörper. Aber ich habe das nicht kontrolliert.
Wie hast du dich denn auf der Reise ernährt?
Essen war ein wichtiges und sehr teures Thema. Ich habe 6.000 Kalorien pro Tag verbrannt, deshalb habe ich immer gegessen so viel ich konnte. Um keine Zeit durch Kochen zu verlieren, war ich meist in kleinen Restaurants, Supermärkten oder bei Tim Hortons, einer beliebten kanadischen Coffeshop-Kette, bei der es Donuts und Sandwiches gibt. Zum Frühstück habe ich immer irgendwo auf dem Weg angehalten. Außerdem hatte ich Haferflocken in Portionstüten dabei.
Bist du vorher viel Rad gefahren?
Ich fahre zwar in der Stadt viel Fahrrad und habe als Teenager 1-3-Tagestrips unternommen, aber das war meine allererste große Tour. Ich habe mir Funktionskleidung und Campingausrüstung gekauft und wusste, welche Strecke ich fahren werde, aber das war’s an Vorbereitung.
Cargobikes sind gerade auch bei uns im Kommen. Was ist der wesentliche Unterschied zu normalen Fahrrädern?
Viele hätten so eine Route sicher mit einem Tourenrad machen. Das kostet in der Anschaffung weniger und man kann es mit in den Bus nehmen. Aber ein Cargobike hat auch große Vorteile. Du kannst alles, was du brauchst in einer einzigen großen Tasche verstauen. Dadurch finde ich es windschnittiger, und ansonsten fährt es sich wie ein normales Fahrrad. Gerade das Modell, das ich hatte, ist außerdem aerodynamisch designt und sehr leicht – das ist also kein Gegenargument.
Wo hast du auf deiner Tour übernachtet?
Etwa ein Drittel der Nächte habe ich gezeltet, ein Drittel in Motels übernachtet und ein weiteres Drittel habe ich bei Leuten verbracht, die mich in ihrem Haus schlafen ließen. Mit dem Campen hatte ich vorher keinerlei Erfahrung, sodass ich am Anfang große Probleme damit hatte, mein Zelt auf- und wieder abzubauen.
Hast du unterwegs viele Leute kennengelernt?
Ja, auch wenn ich auf langen Strecken durchs Niemandsland gefahren bin, habe ich viele Leute kennengelernt. Meist wenn ich in den Städten etwas gegessen habe, mein Cargobike hat die Menschen neugierig gemacht.
Außerdem haben mich viele über Social Media kontaktiert, zum Beispiel um mich zum Abendessen oder auf ein Bier einzuladen. Über warmshowers.org habe ich Menschen gefunden, bei denen ich wohnen konnte. Sie waren alle nett und haben sich sogar um mein körperliches Wohl gesorgt.
Wenn Deutsche an Kanada denken, denken sie an Bären und Wölfe. Hast du Begegnungen mit solchen Tieren gemacht?
Gott sei Dank nicht, auch wenn ich definitiv im Bären-Land war. An den Straßen standen Schilder wie „Bären füttern verboten!“ und ich hatte Bären-Spray dabei. Erstaunlicherweise habe ich nicht viel von der wilden Natur mitbekommen, obwohl im Herbst in den nördlichen Gefilden Jagdsaison ist.
Gab es einen Moment auf deiner Fahrradreise, in dem du am liebsten aufgegeben hättest?
Ja, sogar viele. Mir tat ständig alles weh und manchmal haben mich die langen Entfernungen entmutigt. Besonders im bergigen Norden von Ontario, da mochte ich nicht mehr. Nach Alberta zu kommen war auch schwierig, weil ich mit einem Schneesturm gekämpft habe. Aber mir war immer bewusst, dass an meinem Projekt noch andere Leute dranhängen.
Ich wollte außerdem nicht als Versager dastehen. Teilweise habe ich zwar darüber nachgedacht, den Bus zu nehmen, doch die wollten mein Rad nicht transportieren. Im Endeffekt blieb mir also keine andere Wahl, als einfach weiter zu machen.
Wie hast du es geschafft, dich immer wieder zu motivieren?
Nach elf Stunden Radfahren, nach Tagen mit Hagel und Regen konnte mich eigentlich nur noch mein Kopf auf Trab halten. Man braucht sehr viel geistige Stärke, darauf hätte mich auch nichts richtig vorbereiten können. „Hör nie auf zu treten!“, habe ich mir immer gesagt.
Was waren deine Highlights der Tour?
Die Rockies aus der Entfernung zu sehen. Aufzuwachen, um dann – begrüßt von einem wundervollen Sonnenaufgang – aus meinem Zelt zu treten. Und als ich meinen Vater in Calgary getroffen habe, hat mir das unheimlich viel Kraft gegeben und mich stolz gemacht. Das letzte Highlight war mein Geburtstag, als ich das Endziel Vancouver erreicht hatte.
Menschen, die solche Abenteuer erleben, sagen immer, dass man dabei ganz viel über sich selbst lernt. Was hast du über Lamar Timmins gelernt?
Wenn ich etwas wirklich schaffen will, dann kann ich es auch, solange ich an mich selbst glaube. Ich habe gelernt, wie wichtig das ist, um seine Träume zu verwirklichen. Auf der Tour habe ich außerdem festgestellt, dass ich die Einsamkeit genauso genieße wie das Zusammentreffen mit Fremden.
Du musst jetzt Tausende von tollen Fotos haben. Hast du Veröffentlichungspläne?
Ich habe viele Bilder gemacht, aber auch ganz viele tolle Fotogelegenheiten verpasst. Inzwischen habe ich meine 100 Favoriten ausgewählt. Zurzeit mache ich gar nichts damit, ich würde aber gerne einige Aufnahmen drucken lassen. Vielleicht werde ich sie eines Tages in unserem Fahrradladen ausstellen.
Ich habe dich ja vor einiger Zeit bei AHOI VELO, einem Laden für Cargobikes in Hamburg, kennengelernt. Du hast dort eine kleine Auswahl deiner Fotos gezeigt. Was hat dich überhaupt hierher gebracht?
Den Winter nehme ich mir immer zum Reisen frei. Und Deutschland ist für mich ein besonderes Reiseland, weil hier alles begann: In München habe ich mal einen Job als Fahrradtour-Guide bekommen. Das hat erst mein Interesse an dem ganzen Bike-Lifestyle geweckt. Ich habe dort sechs Monate lang gearbeitet und eine Menge Deutsch gelernt. Auch Anfang dieses Jahres habe ich wieder einen Deutschkurs am Goethe-Institut besucht, diesmal in Hamburg.
Lamar Timmins bei ahoi velo in Hamburg
Und wie gefällt dir meine Heimat?
Hamburg ist eine großartige Stadt mit vielen interessanten Vierteln. Es ist ein toller Ort, um die deutsche Sprache zu lernen. Du kannst immer tiefer in die Stadt eintauchen, solange, wie es dir gefällt. Ich hoffe, ich kann nächsten Winter wiederkommen.
Das wäre ja super, vielen Dank für das Interview! Wer zufällig demnächst in Montréal ist, kann Lamar übrigens in seinem Fahrradladen allo velo besuchen. Dort gibt es auch Cargobikes. Wer hier in Hamburg mal Probefahren möchte, schaut zum Beispiel bei AHOI VELO am Schlump oder bei Cargobike-Hamburg in Winterhude vorbei.
Alle Fotos © Lamar Timmins